Zwölfjährige Mutter aus Hamburg ist kein Einzelfall
Die Hamburger Gymnasiastin Patricia ist zwölf Jahre alt, geht in die sechste Klasse und hat jetzt einen Sohn geboren. Sie ist kein Einzelfall. Immer öfter bekommen Kinder Kinder. Die Zahl ungewollter Schwangerschaften unter Minderjährigen steigt. MEDIZIN-WELT geht den Ursachen nach.
Die erst zwölfjährige Mutter aus Hamburg-Wandsbek hat viele Eltern beunruhigt. Sie fragen sich: Woran liegt es, wenn Kinder Kinder kriegen.? Kann meiner Tochter das gleiche passieren wie der zwölfjährigen Schülerin Patricia? Ab wann haben unsere Kinder überhaupt Sex, wenn einzelne mit zwölf schon Mutter werden?
Die zwölfjährige Mutter aus Hamburg ist jedenfalls kein Einzelfall. Die Zahl der Schwangerschaften bei Mädchen unter 15 Jahren ist in den letzten zehn Jahren drastisch angestiegen. So hat sich die Zahl der Abtreibungen bei den 10- bis 14jährigen Mädchen innerhalb von zehn Jahren mehr als verdoppelt. Fast zehn Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche betreffen diese Altersgruppe. In absoluten Zahlen sind es über 800 pro Jahr. 1996 verzeichnete das Statistische Bundesamt noch keinen Schwangerschaftsabbruch bei einer Zehnjährigen. Heute treiben in Deutschland jährlich mehr als zwanzig Kinder im Alter von zehn Jahren ab.
Kinder haben immer früher Geschlechtsverkehr
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat in einer Erhebung des Jahres 2001 festgestellt, daß 11 Prozent der 14jährigen, 25 Prozent der 15jährigen und 40 Prozent der 16jährigen Mädchen bereits Geschlechtsverkehr gehabt haben. Vor allem in den jüngeren Jahrgängen werde die Zahl der Mädchen mit Koitus-Erfahrung immer größer. Neuere derart gründliche Untersuchungen gibt es nicht. Sexualwissenschaftler bestätigen jedoch anhand ihrer Erfahrungen, daß sich der Trend fortsetzt. „Mädchen haben im Durchschnitt mit 14,8 Jahren das erste Mal Sex, Jungen mit 15,1 Jahren. Vor vierzig Jahren waren Mädchen beim ersten Mal 17 Jahre alt, Jungen sogar 18“, hat zum Beispiel der renommierte Sexualwissenschaftler Prof. Norbert Kluge aus dem rheinland-pfälzischen Landau festgestellt. Die zwölfjährige Mutter aus Hamburg hat nach Lage der Dinge deutlich früher Verkehr gehabt.
Die erste Regel bekommen nicht wenige Mädchen heute schon mit neun Jahren und somit in der vierten Grundschulklasse. Die Aufklärung trägt dieser Entwicklung so gut wie keine Rechnung. Darauf weist die Ärztin und Sexualpädagogin Dr. Gisela Gille von der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau (ÄGGF) hin. Die früher einsetzende Geschlechtsreife und die mangelnde Aufklärung in der Schule seien die Hauptgründe für ungewollte Schwangerschaften bei Kindern.
So hatte die zwölfjährige Patricia aus Hamburg über „heftige Bauchschmerzen“ geklagt und war schließlich mit Verdacht auf Blinddarm-Durchbruch in ein Kinderkrankenhaus eingeliefert worden. Als die Untersuchung dann ergab, daß sie kurz vor der Niederkunft stand, mußte sie verlegt werden. Es gab keinen Kreißsaal im Kinderhospital. Den Eltern war die Gewichtszunahme der Tochter aufgefallen, aber Patricia habe stets erklärt, sie „esse einfach zu viel.“
Daß die zwölfjährige Schülerin nicht einmal um ihre Schwangerschaft wußte, ist ein erschreckendes Indiz für die mangelnde Kenntnis über Vorgänge im eigenen Körper. Sie ist allerdings kein Einzelfall. Viele sind sich weder über die Bedeutung der monatlichen Regel im klaren, noch wissen sie etwas über Eisprung und Empfängnisbereitschaft, berichtet Gisela Gille. 15jährige stellten Fragen wie „kann ich mit einem Tampon verhüten“ oder „kann man eigentlich schon gleich beim ersten Mal schwanger werden?“
Daß angesichts derart mangelhafter Aufklärung Junggebärende unter 15 Jahren in Deutschland keine Seltenheit sind, liegt auf der Hand. Die BZgA hat in der erwähnten Untersuchung auch ermittelt, daß „etwa 18 Prozent der 14- bis 15-jährigen Mädchen bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr nicht verhüten“. Über die Gründe hat die BZgA-Untersuchung auch herausgefunden: 43 Prozent der Mädchen erklärten, es sei „zu spontan“ passiert, 32 Prozent sagten, sie hätten „die Pille vergessen“, 28 Prozent meinten, „es wird schon nichts passieren“. Bei knapp 20 Prozent waren Alkohol und Drogen im Spiel. 15 Prozent hatten kein Kondom griffbereit, 14 Prozent wollten „aufpassen“ und zehn Prozent hatten sich in der Situation nicht getraut, den Geschlechtspartner auf Verhütung anzusprechen. Bei den Jungen lauten die Zahlen ganz ähnlich.
Frühe Fetteinlagerung im Körper von Mädchen löst die Geschlechtsreife aus
Als Gründe für die immer frühere Geschlechtsreife von Kindern führt die Wissenschaft unter anderem die besonders gute Ernährung der nachwachsenden Generationen an. Die Aufnahme an wertvollem Eiweiß, an Kalorien und Hormonen führe zur früheren Reife. Die kindlichen Körper setzen demnach früher Fett an und das sei für die Natur das Signal für das Einsetzen der Geschlechtsreife. Dem Organismus wird durch die vermehrte Fetteinlagerung ein höheres Alter vorgetäuscht. Die Periode setzt erfahrungsgenmäß bei einem Fettanteil des Körpers von etwa 19 bis 22 Prozent ein. Bei Jungen kann die Samenproduktion sogar schon ab dem siebten Lebensjahr angeregt werden. So kommt es, daß Kinder immer früher geschlechtsreife Körper haben, auf sie aber seelisch in keiner Weise vorbereitet sind.
Noch nie wurde in Deutschland so viel aufgeklärt wie seit Ende der 60er Jahre. Damals begannen die Kultusminister, die Sexualaufklärung in den Schulen einzuführen. Andererseits gab es noch nie so viele schwangere Kinder und Jugendliche wie derzeit. Mediziner und Sexualpädagogen kennen neben der körperlichen Frühreife noch eine gravierende Ursache. Sex sei zum Konsumartikel geworden. Kindern werde suggeriert, er gehöre zum Erwachsenwerden dazu wie Handy und Haare färben. Dadurch werde die Kindheit viel zu früh abgebrochen. Die Heranwachsenden überblickten die Tragweite ihres Tuns überhaupt nicht, und die Aufklärung sei trotz Verankerung in den Lehrplänen unzureichend und häufig auch lebensfremd.
Kinder denken, Sex gehöre zum Erwachsenwerden dazu wie Handy und Haare färben.
Jungfräulichkeit hat zudem kaum noch einen Stellenwert.. Die Mädchen fragen heute nach Auskunft von Experten wie Gisela Gille nicht mehr, wie lange soll ich Jungfrau bleiben, sondern, wann soll ich das erste Mal mit einem Jungen schlafen. Aus Untersuchungen geht außerdem hervor, daß manche Mädchen in einer Schwangerschaft bewußt Anerkennung suchen. Vor allem in sozial benachteiligten Situationen meinen Mädchen, ein Kind würde ihren „Stellenwert Familie und Gesellschaft“ erhöhen, wie Untersuchungen kirchlicher Einrichtungen ergeben haben.
Und wie verhalten sich Eltern richtig? In vielen Familien haben sie gar keinen Zugang zu ihren Heranwachsenden. Dazu die Sexualpädagogin: „Eltern, die zur Sexualität schweigen, machen ganz entscheidende Fehler. Wenn sich Eltern, denen der heutige lockere Umgang ihrer Kinder mit dem Thema Sexualität suspekt ist, aus Unsicherheit zurückhalten, suchen die Kinder ihre Informationen anderswo. Das ist eine Erfahrung, die Gisela Gille in ihren vielen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern gewonnen hat. Der Gesprächsfaden zwischen Eltern und Kindern dürfe niemals ganz abreißen, dies sei für Kinder eine der größten Hilfen in schwierigen Situationen überhaupt.